Tugend als Menschenbildung

VON MARIAN HEITGER (Die Presse) 10.09.2003

 

Unsere Bildungsministerin hat den Jugendlichen empfohlen, sie sollten nicht von Party zu Party rauschen, sondern ihrer Verantwortung für die Zukunft, insbesondere für mehr Kinder, gerecht werden. Der von ihr konstruierte Zusammenhang hat in der Öffentlichkeit vielfach Kritik, Hohn und Spott ausgelöst. Die drängende Sorge um die Sicherung unserer Zukunft ist zweifellos aber eine Frage des Nachwuchses. Es geht im Grunde um den Willen zum Kind.

Dieser hat mit Menschenbildung zu tun. Der Wille zum Kind ist an die Frage nach dem Sinn des Menschseins gebunden. Wo er geschwunden ist, in der allgemeinen Betriebsamkeit verloren gegangen ist und sich in den Vergnügungen des Tages Ersatz schafft, da wird das Kinderkriegen zur Last und Belastung.

Die Frage des Menschen nach Sinn verweist auf seine Bildung, nämlich seine Möglichkeit und Notwendigkeit zur Sinngebung. Dies wäre Anlass genug, die weithin betriebene Bildungspolitik zu überdenken. In ihr ist die Sorge um Bildung durch die Vermittlung einer Vielzahl von Qualifikationen und Kompetenzen ersetzt. Diese aber beantworten nicht die Frage nach Sinn, immer bleibt die Frage "wofür".

Deshalb wäre es höchst an der Zeit, dass Schule nicht nur Kompetenzen vermittelt, sondern die Pädagogik sich an den Begriff der Tugend erinnert. Tugenden haben ihren Sinn in sich, beantworten die Frage "wofür" aus und mit sich selbst. "Tugend ist der Lohn ihrer selbst", hatte Kant formuliert. Vielleicht sollte man die soziale Kompetenz durch die Tugend der Liebe und Hilfsbereitschaft ersetzen, die Kompetenz zur Selbstverwirklichung durch die Tugend des Dienens und der Bescheidenheit, die Kompetenz zur Flexibilität durch die Tugend der Standfestigkeit, die emotionale Kompetenz durch die Tugend des Mitempfindens in der Verantwortung für das Du und die Gemeinschaft, die kognitive Kompetenz durch die Tugend der Redlichkeit, Besonnenheit und Wahrhaftigkeit.

Vorschläge dieser Art werden leicht als Ausdruck reaktionären Denkens abgetan, als idealistisch und lebensfremd zurückgewiesen. Aber vielleicht beginnt man einzusehen, dass ohne jene Tugenden die humane Existenz des Einzelnen und der Gemeinschaft gefährdet ist, dass der pädagogische Auftrag sich nicht nur im Dienst von Wirtschaft und Kapital rechtfertigt, sondern in jener Bildung, die die Frage nach dem Sinn stellt, Sinn finden lässt, und die Zukunft weder der Resignation noch der hektischen Betriebsamkeit überlässt.

 

Univ.-Prof. Dr. Marian Heitger  Erziehungswissenschaftler